Über 150 Jahre Nahrung für Körper und Geist…
Die Geschichte der Winterthurer Speisegesellschaft führt zurück in die Zeit als sich in Winterthur die Arbeiterschaft zu organisieren begann. Die nachfolgende Geschichte basiert auf der Jubiläumsschrift «125 Jahre Speisegesellschaft Winterthur vorm. Allgem. Arbeiterbildungsverein 1864-1989», verfasst von Hans Bösiger 1989. Zusammengefasst und redigiert durch Heinz Bächinger im Winterthurer Glossar.
Die Geschehnisse gehen bis zum 17.Februar 1835 zurück. Damals berichtete Statthalter Sulzer an den Polizeirat nach Zürich, dass vier Fremde, die aus Frauenfeld zugezogen seien, unter den Fremdarbeitern – sprich Handwerksburschen – Druckschriften verteilt und einen Unterstützungsverein gegründet hätten. Ihre Versammlungen fanden in einer hiesigen Pintenschenke (vermutlich im Restaurant „Steinbock“ in der Marktgasse) statt. Neben den Unterstützungsfragen für kranke Handwerksburschen bestanden die Versammlungen im Wesentlichen aus dem Lesen von Arbeiterliteratur. Das Gelesene wurde dann diskutiert und mitunter wurde auch gesungen. In der ersten Nummer der Publikation „Nordlicht“, einer Gründung der beiden Studenten Erhardt und Kratz in Zürich, steht: „Vertraut auf Euch selbst, Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern, die Ihr von Hochmut und Herrschaft fern, in reger Tätigkeit ein anspruchsloses Leben führt! Ihr seid der Kern des Volkes, an Euch ist’s, den Wurm zu zertreten, der an der innersten Marke des Volkes nagt. Schüttelt sie ab, die Fesseln, die arbeitsscheue Müssiggänger Euch schmieden.“ Obschon den Mitgliedern des Unterstützungsvereins keine strafbaren Handlungen vorgeworfen werden konnten und obschon die hiesigen Handwerksmeister den Mitgliedern die besten Arbeitszeugnisse ausstellten, wurden alle von den Behörden aus dem Kanton Zürich ausgewiesen. Dies geschah teilweise auch auf Druck der deutschen, österreichischen und französischen Regierungen, die eine regelrechte Hetze gegen die Schweiz betrieben mit der Begründung, die Schweiz sei ein Sammelbecken revolutionärer Bewegungen. Dass mit dieser Ausweisung die Zerschlagung von Unterstützungsvereinen der Handwerkburschen nicht gelang, beweist die Existenz eines „Deutschen Arbeitervereins Harmonie“ in den Jahren 1842 bis 1850. Auch dieser Verein wurde aufgelöst und seine Mitglieder ausgewiesen. Ein gleiches Schicksal erlitten auch die befreundeten deutschen Arbeitervereine in Genf, Lausanne, La Chaux-de-Fonds, Fleurier, Freiburg, Bern, Pruntrut, St. Immer, Burgdorf, Thun, Zürich und Schaffhausen. Die Vereine in Aarau, Luzern, Glarus, Chur und Herisau wurden unter polizeiliche Aufsicht gestellt.
Nicht entmutigt durch die Auflösung des Vereins „Harmonie“, stellte noch im gleichen Jahr 1850 der Schullehrer J.J. Weiss den Behörden ein Gesuch zur Gründung eines Lese- und Gesangsvereines. Nach polizeilicher Überprüfung der Gründungsmitglieder, die aus deutschen und Schweizer Arbeitern bestanden, wurde der Verein bewilligt. Die Beteiligung der Schweizer Arbeiter an der Gründung des Vereins, die mit grosser Wahrscheinlichkeit Mitglieder des 1848 gegründeten „Grütli-Vereins“ waren, kann als ein Akt der Solidarität gegenüber den deutschen Handwerksburschen angesehen werden. Eine Vereinsgründung konnte mit ihrer Mitgliedschaft eher erwirkt werden. Diese Neugründung kann nun als Anfang des „Allgemeinen Arbeiter- Bildungs-Vereins“ angesehen werden. Der Lese- und Gesangsverein nannte sich je nach den Zeitumständen auch: Harmonie Winterthur, Deutscher Verein Winterthur, Deutscher Verein Eintracht Winterthur, Deutscher allgemeiner Arbeiter Bildungsverein – und zuletzt schlicht: Allgemeiner Arbeiter-Bildungs-Verein. Diese Vereine bestanden aus Untersektionen, das waren die Gesangssektion, die Turnsektion, der dramatische Klub und die Speisegesellschaft. Der Hauptverein hat sich im Laufe der Zeit von einem Lese- und Gesangsverein in einen bewusst sozialdemokratischen Verein gewandelt, der Mitglied der ersten Arbeiterunion Winterthur und Initiant der Gründung der zweiten Arbeiterunion war, die heute noch besteht. Hauptsächlich befasste sich der Hauptverein mit der politischen Weiterbildung, organisierte Ausflüge und Abendunterhaltungen sowie Christbaumfeiern. Insbesondere war er auch langjähriger Organisator der Lassalle-Feiern in Winterthur (Ferdinand Lasalle (1828-1864) war Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV)).
Die Speisegesellschaft als Sektion
Im Mai 1864 versammelten sich einige Mitglieder des deutschen Vereins Winterthur im Kasino zur ersten Sitzung der „Aktionäre der Speise-Assoziation „. Diese richtete dann bei Bäckermeister Ehrensberger in der Paulstrasse die erste Pension ein. Diese Pension war eine wichtige Verpflegungsstelle für ledige Handwerker. Für durchreisende Handwerksburschen, die vorwiegend aus dem Norden stammten, war sie eine gesuchte Relaisstation. Die Pensionäre mussten Mitglieder des Hauptvereins sein und zusätzlich der Speisegesellschaft ein Eintrittsgeld leisten, das erst beim Austritt oder Weiterzug wieder ausbezahlt wurde. Der Hauptverein festigte sich und die soziale Institution „Speisegesellschaft“ warf einen kleinen Überschuss ab. Dies veranlasste den Hauptverein, an der Haldenstrasse ein eigenes Vereinshaus bauen zu lassen, in das die Speisegesellschaft einzog. Die Umtriebe mit dem eigenen Vereinshaus und schlechte Zeiten überstiegen die Kräfte des Hauptvereins, der dann genötigt war, das Haus 1880 an Metzgermeister Vogt zu verkaufen und gleich wieder zu mieten. Obwohl Metzgermeister Vogt der hauptsächliche Fleischlieferant der Speisegesellschaft war, entwickelte er sich, je länger, je mehr, zu einem Mieter-Vogt. Ständige Mietzinsaufschläge bewogen dann den Hauptverein, Ausschau nach einer anderen Liegenschaft zu halten. Am 1.Juli 1894 konnte er das Haus Hintergasse 31, heute Steinberggasse 31, für 36‘000 Franken käuflich erwerben.
Der Hauptverein und seine Sektionen waren eingebunden in der „Landesorganisation der deutschen und österreichischen-ungarländischen Sozialdemokraten in der Schweiz“, später in der „Sozialdemokratischen Landes-Organisation der internationalen Arbeitervereine in der Schweiz.“ Im Jahre 1912 bestanden, sowohl in Mailand und Turin als auch in vierzig Orten über die ganze Schweiz verteilt, solche Vereine.
Tätigkeit
Für die ganze Wochenkost, Frühstück-, Mittag-und Abendessen waren 1901 Fr. 9.50 zu bezahlen. Die Kost war gut und kräftig und wurde in genügender Quantität geboten. Zweifellos bot keine einzige der zahlreichen Kostgebereien für das gleiche Geld eine der Qualität und Quantität nach so befriedigende Kost, wie die Speisegesellschaft. Die Speisegesellschaft lieferte jedem Kostteilnehmer das „Volksrecht“. Es war ein interessanter Anblick, wenn auf dem zum Nachtessen gedeckten Tisch jeder Teller mit dem Parteiblatt bedeckt war, das zuallererst in die Hand genommen werden musste und auch fleissig gelesen wurde. 1903 wurden an organisierte reisende Genossen 861 Essen gratis ausgeteilt. Die Unterstützten verteilten sich auf 55 Berufe. Der Nationalität nach waren die Durchreisenden 532 Deutsche, 141 Österreicher, 114 Dänen, 67 Schweizer, 2 Franzosen, 2 Serben, 2 Norweger und 1 Italiener.
1907 konnte die Speisegenossenschaft zufrieden auf das verflossene Geschäftsjahr zurückblicken. Sie hatte eine durchschnittliche Mitgliederzahl von 123 Personen. Bedürftigen Mitgliedern wurden (wegen Alters, Krankheit und Arbeitslosigkeit) das Kostgeld um insgesamt Fr. 430.50 ermässigt. An durchreisende Genossen wurden 2205 Gratisessen abgegeben. Daran leisteten die Gewerkschaften einen Betrag von Fr. 330.50.
Erster Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg hatte in der Speisegesellschaft deutliche Spuren hinterlassen. Die schlechtere Wirtschaftslage und die Vorahnung des kommenden Krieges liess die Mitgliederzahl im Jahre 1913 auf 112 sinken, wobei 165 Mitglieder aufgenommen wurden und 172 austraten. 1914, nach Ausbruch des Krieges, änderte sich dieses Bild schlagartig. In den ersten fünf Kriegsmonaten konnte dann der Pensionsbetrieb noch mit 55 Mitgliedern (25 Schweizern, 17 Deutschen, 12 Österreichern und einem Dänen) weitergeführt werden. Freud und Leid waren ganz innige Nachbarn geworden. Noch am 17.Mai 1914 feierte die Speisegesellschaft ihr „50-jähriges Stiftungsfest“, das der Präsident Pfosser mit Freude und Eifer organisiert hatte. Als Österreicher zog er wenige Wochen später in den Krieg, geriet in russische Gefangenschaft und wurde nach Sibirien verschickt. Genosse Ulpe war auf dem französischen Kriegsschauplatz gefallen, und es wurde von vielen verwundeten Mitgliedern berichtet. Der Nationalismus versetzte der internationalen Arbeiterbewegung einen schweren Schlag. Trotzdem ging der Unterstützungs- und Solidaritätsgedanke in der Speisegesellschaft nicht verloren. Während der ganzen Kriegsdauer wurde den Frauen, deren Männer im Militär- oder Kriegsdienst standen, das Essen verbilligt und den Kindern teilweise gratis abgegeben.
Die Speisegesellschaft als eigenständiger Verein
Das gleichzeitige Wirken von Grütliverein, Allgemeinem Arbeiter-Bildungsverein und der aufkommenden Sozialdemokratischen Partei in Winterthur und den unmittelbaren Vororten gelang -obschon alle diese Vereine zusammen mit den Gewerkschaften die Arbeiterunion bildeten- nicht immer reibungslos. Im Allgemeinen Arbeiter-Bildungs-Verein wurde eher das revolutionäre internationale Gedankengut und im Grütliverein der demokratische schweizerische Weg vertreten. Um zu einer einheitlichen Politik zu kommen, unternahm die „Sozialdemokratische Landesorganisation der internationalen Arbeitervereine in der Schweiz“ Fusionsverhandlungen mit der Sozialdemokratischen Partei. Diese Verhandlungen und der Krieg, der im Allgemeinen Arbeiter-Bildungs-Verein zur Folge hatte, dass die ausländischen Mitglieder stark zurückgingen und dadurch die Schweizer Mitglieder zur Mehrheit wurden, förderte die Verschmelzung. So fand dann am 8. Mai 1917 die letzte Generalversammlung des Allgemeinen Arbeiter-Bildungsvereins von Winterthur statt. Dessen Sektion, die Speisegesellschaft, wurde zu einem eigenständigen Verein. Dies nicht ganz ohne Geburtswehen, verwehrte doch das Bezirksgericht der „Spisi“, in ihrem neuen Namenszug das Wort „Genossenschaft“ zu verwenden. Behördlich wurde dann der Name „Speisegesellschaft Winterthur, vormals Allgemeiner Arbeiter-Bildungsverein“ für den Eintrag ins Grundbuch freigegeben.
Der neue Verein trat das Erbe der Liegenschaft Steinberggasse 31 an. Die „Spisi“ war nun selbständig und hatte keine Rückendeckung mehr. Damit der Betrieb unterbruchslos weitergeführt werden konnte, wurden die Statuten der Speisegenossenschaft des Allgemeinen Arbeiter-Bildungs-Vereins lediglich modifiziert und mit einem Nachtrag versehen, der nicht den Zweck des Vereins, sondern nur die Mitgliedschaft regelte.
Daraus ergab sich aber, dass die Hausverwaltung, der Pensionsbetrieb, der Zigarren- und Ansichtskartenverkauf und die Bibliothek eigenständige Rechnungen führen mussten. Es wurde angestrebt, dass jeder Teilbereich selbsttragend sei. Mit dem Zins und dem Ertrag aus der Vermietung des Ladenlokals wurde der Gebäudeunterhalt bestritten und die Modernisierung des Betriebs finanziert. In späteren Jahren wurde der noch verbleibende kleine Überschuss bei befreundeten Organisationen zu einem minimalen Zinsfuss angelegt.
Insbesondere für die Schneider-Genossenschaft, die Genossenschaftsschreinerei, das Bau-Werk, die Genossenschafts-Buchhandlung, die Naturfreunde (Bau des „Seegüetli“) und die Kinderfreundeorganisation (Ferienhaus „Grossegg“) war die „Spisi“ begehrte Kreditgeberin. Noch in jüngster Zeit hat sie die Anteilscheine der Volkshaus- genossenschaft erneuert, sich an der Genossenschaft „Widder“ beteiligt und der Pressunion Winterthur mit einem Grundpfanddarlehen ausgeholfen.
Die Organisation des Pensionsbetriebs
Die Seele des Pensionsbetriebes war der hauptamtlich angestellte Verwalter, dem meistens eine Köchin, zwei Küchenmädchen und zwei Serviererinnen beigegeben waren. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die täglichen Lebensmittel und Getränke möglichst billig einzukaufen, aber auch genügend Wintervorräte anzulegen. Most und Kartoffeln wurden direkt bei den Bauern eingekauft und mit dem selbstgemachten Sauerkraut im eigenen Keller gelagert. Aber auch Brennstoff für Küche und Heizung musste organisiert werden, was während des Zweiten Weltkriegs eine besonders schwierige Aufgabe war.
Der Betrieb konnte aber nur funktionieren, weil die Pensionäre sich einer strengen Lokalordnung unterziehen mussten. Sie bezahlten ihre Mahlzeiten in der Regel für eine Woche im Voraus. Die ausgestellten Gutscheinkarten wurden von einem gewählten Kontrolleur oder dem Verwalter bei jeder Mahlzeit mit einer Lochzange entwertet. Nicht eingenommene Mahlzeiten verfielen, ausser man hatte sich am Vortage abgemeldet. In den Speisesälen waren lange Tische und Bänke aufgestellt, an die man sich aber erst setzen durfte, wenn sie fertig gedeckt waren. Die Speisen wurden in grossen Schüsseln und Platten aufgetragen. Aus diesen konnten sich die Pensionäre selbst bedienen.